Schuss in den Rücken? Notwehr durch Zweifel


Das Bundesgericht bestätigt den Freispruch eines Polizisten vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung, weil zweifelhaft bleibt, ob er einer Person nach beendeter Notwehrlage in den Rücken schoss.

Im Dezember 2015 haben zwei Polizisten mehrfach auf eine Person geschossen, die in Zürich mit einem Messer in der Hand schnellen Schrittes auf diese Beamten zugegangen ist. Der Sachverhalt erinnert an eine „suicide by cop“ Situation. Die (damals) wegen exazerbierter Schizophrenie schuldunfähige Person erlitt – nach meiner Zählung – neun Treffer. Bei drei Schüssen eines Stadtpolizisten besteht die Möglichkeit einer Penetration des Körpers von hinten nach vorne. Gegen diesen Polizeibeamten erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, nach erfolgreich angefochtener Einstellung des Verfahrens, Anklage wegen versuchter vorsätzlicher Tötung (Art. 111 i. V. m. Art. 22 StGB). Im Urteil des Bundesgerichts 6B_1301/2021 vom 9. März 2023 ist streitig, ob derselbe Polizist stets in Notwehr gehandelt hat.

Einleitend spricht sich das Bundesgericht (wieder) für die Anwendung des Art. 10 Abs. 3 StPO als Beweiswürdigungsregel (im Gegensatz zur Entscheidregel) aus:

[…] In seiner Funktion als Beweiswürdigungsregel kommt dem Grundsatz „in dubio pro reo“ im Verfahren vor Bundesgericht mit anderen Worten keine über das Willkürverbot von Art. 9 BV hinausgehende Bedeutung zu (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1; 145 IV 154 E. 1.1; 143 IV 500 E. 1.1; je mit Hinweisen). Als Beweislastregel bedeutet der Grundsatz „in dubio pro reo“, dass es Sache der Anklagebehörde ist, die Schuld des Beschuldigten zu beweisen. Der Grundsatz ist verletzt, wenn das Gericht einen Beschuldigten (einzig) mit der Begründung verurteilt, er habe seine Unschuld nicht nachgewiesen. Dies prüft das Bundesgericht mit freier Kognition (BGE 144 IV 345 E. 2.2.3.3; Urteile 6B_1362/2020 vom 20. Juni 2022 E. 13.2.2; je mit Hinweisen).

Urteil des Bundesgerichts 6B_1301/2021 vom 09.03.2023 E. 2.3.2

Der seinerzeit angeschossene Beschwerdeführer vermag den vorinstanzlich festgestellten, entlastenden Alternativsachverhalt nicht umzustossen. Zudem ist der angeklagte Sachverhalt aus Sicht des Bundesgerichts nicht zweifelsfrei nachgewiesen, womit im Ergebnis von Notwehr auszugehen ist. Im Zweifel für den Polizisten wird der Freispruch der Vorinstanz bestätigt:

Mit den weiteren von der Vorinstanz genannten Indizien (Fundorte von Messer und Rucksack [angefochtenes Urteil S. 41] und Aussagen von D. [angefochtenes Urteil S. 46 f.]) sowie ihren Erwägungen zu den Schüssen mit Eintritt auf der Körperrückseite („Szenario 1, 2 und 9“, angefochtenes Urteil S. 43 ff.), welche allesamt ein stimmiges Bild ergeben, setzt sich der Beschwerdeführer nicht auseinander. Er präsentiert dem Bundesgericht letztlich einzig einen weiteren, aus seiner Sicht möglichen Geschehensablauf, ohne Willkür in der vorinstanzlichen Sachverhaltsfest[st]ellung darzutun. Die von der Vorinstanz aufgezeichnete Alternative zum Sachverhalt gemäss Anklage bleibt unbesehen seiner Einwände plausibel. Damit bestehen ernsthafte, unüberwindliche Zweifel an der zur Anklage gebrachten und vom Beschwerdeführer vertretenen Tatversion, wonach der Beschwerdegegner 2 nach Beendigung der Notwehrsituation noch einen Schuss auf ihn abgefeuert habe. Diese Zweifel schliessen einen Schuldspruch aus.

Urteil des Bundesgerichts 6B_1301/2021 vom 09.03.2023 E. 2.4.8

Die vom Bundesgericht eingangs aufgezählten fünf Durchschüsse erinnern mich ferner an die Aussage eines Polizeiausbilders im Rahmen eines besuchten Lehrgangs: Die zielballistische Deformation polizeilich verbreiteter Action 4 Munition ist knapp – insbesondere aus kompakten Läufen.