Im Oktober 2020 hat eine vermutlich aus Frankreich stammende Gruppierung mutmasslich versucht, ein Waffenfachgeschäft in Wallbach AG zu überfallen. Im Zuge dessen kam es zu einem Schusswechsel zwischen den angereisten Personen und dem oberhalb des Ladengeschäfts wohnhaften Waffenfachhändler.
In der Rundschau vom 7. September 2022 stellte sich der Ladenbesitzer für ein Interview zur Verfügung. Dabei wurden auch Aufnahmen der dortigen Überwachungskameras ausgestrahlt.
Anklage
Gegen den Waffenhändler wurde am 10. Mai 2022 Anklage erhoben. Vorgeworfen wurde ihm der Versuch der mehrfachen vorsätzlichen Tötung (Art. 111 i. V. m. Art. 22 StGB). Anlässlich der Hauptverhandlung wurde öffentlich, dass sich das Strafgericht zwischenzeitlich auch eine Würdigung des Anklagesachverhalts als (versuchte) Körperverletzung (Art. 122 bzw. 123 StGB) vorbehalten hatte (Art. 344 StPO). Auch erhellte, dass die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt nach dem Grundsatz in dubio pro duriore (Art. 324 Abs.1 StPO) einer gerichtlichen Beurteilung zuzuführen hatte, was sie nur mittels Anklage bewerkstelligen kann (Anklagegrundsatz, Art. 9 Abs. 1 StPO). Nicht angeklagt oder gerichtlich angedacht waren Widerhandlungen gegen das Waffengesetz sowie Sachbeschädigungen.
Da ich kein „akkreditierter Medienschaffender“ bin, wollte mir das Bezirksgericht auf Anfrage keine (anonymisierte) Kopie der Anklageschrift aushändigen. Insofern kann der angeklagte Sachverhalt hier nicht exakt, sondern nur entsprechend den Äusserungen der amtierenden Gerichtspräsidentin aus der Erinnerung wiedergegeben werden (und ist mit entsprechender Vorsicht zu bewerten):
In der Zeit vor dem Überfall ist der Beschuldigte von der Kantonspolizei Aargau darüber informiert worden, dass vermehrt Einbrüche auf Waffengeschäfte verübt worden seien. Der Beschuldigte ist auf ein erhöhtes Gefahrenpotenzial hingewiesen worden. Am Freitag, 30. Oktober 2022, ca. 02:32 Uhr, sind zwei Personenwagen vor dem Waffengeschäft aufgetaucht; ein Fahrzeug wurde entlang der Geschäftsfassade abgestellt. Ausgestiegen sind jeweils drei vermummte Personen. Eine Person hat das entlang der Fassade geparkte Auto bestiegen und sodann mit einem Hammer gegen die Fassade geschlagen bzw. machte sich mit einem Hammer an der Alarmanlage zu schaffen.
Auf dem Weg von der Toilette zurück ins Bett hat der Beschuldigte Fahrzeuge und Gespräche gehört. Sodann öffnete er die Lamellen der Storen im Schlafzimmer und sah zwei Fahrzeuge, die mit Blaulicht ausgerüstet waren. Weiter sah er mindestens vier maskierte Personen. Der Beschuldigte erkannte, dass einer dieser Personen eine AK 47 führte. Auch erkannte der Beschuldigte die Aufschrift «PO» auf Westen der maskierten Personen. Nun war dem Beschuldigten klar, dass er bzw. sein Geschäft nicht von Polizisten besucht, sondern überfallen wird. Sodann hat der Beschuldigte seine Frau geweckt, sein Sturmgewehr samt vorbereitetem Magazin geholt und öffnete das Schlafzimmerfenster. Er hörte Klopfgeräusche und bemerkte eine Person auf gleicher Höhe neben dem Schlafzimmer. Jetzt trat der Beschuldigte zurück, rief und feuerte sodann einen Schuss in die Wand in Richtung der Alarmanlage, obwohl im bewusst war oder er zumindest annehmen musste, dass sich dort eine Person befand.
Diese auf Höhe des Schlafzimmers befindliche Person sprang sodann runter, lief um das dort geparkte Fahrzeug und zielte mit einer Pistole aufs Schlafzimmerfenster. Es kam zum Schusswechsel. Die unbekannten sechs Personen feuerten ca. 20 Schüsse in Richtung Schlafzimmer und Hausfassade. Der Beschuldigte wiederum feuerte vier bis fünf Schüsse aus dem Schlafzimmerfenster auf die geparkten Personenwagen.
Dem Beschuldigten ist klar gewesen, dass sein Schuss die Aussenwand samt Holzteil mit Isolation und Aussenputz durchschlagen wird. Sodann hat der Beschuldigte mit seinen weiteren Schüssen eine schwere Verletzung oder Tötung von mehreren Personen mindestens billigend in Kauf genommen. Eine geringfügige Abweichung der ballistischen Bahn der Schüsse hätte eine Person lebensgefährlich verletzen können.
Angeklagter Sachverhalt gem. Gerichtspräsidentin, notizengestützt
In der Anklage beantragt der betraute Staatsanwalt eine teilbedingte Freiheitsstrafe von drei Jahren, wovon sechs Monate unbedingt zu vollziehen und die übrigen 30 bei einer Probezeit von zwei Jahren aufzuschieben seien (vgl. Art. 43 StGB und Art. 44 StGB).
Hauptverhandlung
Am heutigen Mittwoch fand in dieser Sache die erstinstanzliche Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Rheinfelden AG (Gesamtgericht) statt, wobei zuerst ein Augenschein abgehalten wurde. Ich habe der Hauptverhandlung als unbeteiligter Zuschauer beigewohnt und kann einstweilen aus meiner auf Notizen gestützten Erinnerung berichten.
Augenschein
Im Rahmen der Hauptverhandlung wurde am Tatort ein Augenschein durchgeführt. Gerichte besichtigen Örtlichkeiten, die für die Beurteilung eines Sachverhalts bedeutsam sind, aber nicht unmittelbar als Beweisgegenstände vorliegen, mittels solchem «Augenschein» an Ort und Stelle (vgl. Art. 193 StPO). Zuschauer und Medien waren hiervon ausgeschlossen. Anlässlich dieses Augenscheins wurden der Beschuldigte sowie seine Ehefrau als Zeugin bereits teilweise befragt.
Standpunkte der Parteien
Der Beschuldigte gab bei seiner zweiten bzw. fortgesetzten Befragung im Wesentlichen zu Protokoll, nicht zu wissen, was er im Überfallzeitpunkt noch mehr [im Sinne von besser] hätte machen sollen. Den Gegenstand [ein Hammer] in der Hand der Person vor dem Schlafzimmerfenster habe er damals für eine Pistole gehalten. Auf die Frage, ob er sich bedroht gefühlt habe, zögerte der Beschuldigte erst und sagte dann, dass aus seiner Sicht schon eine Gefahr für ihn und seine Frau bestanden habe. Er sei davon ausgegangen, dass der Unbekannte sogleich durchs Fenster einsteigen werde. Nie habe er jemanden treffen oder töten wollen. Er habe einen kontrollierten Warnschuss abgeben wollen. Hätte er einen oder mehrere Unbekannte (direkt) beschiessen wollen, hätte er dies tun können – habe aber bewusst darauf verzichtet. Während er beschossen worden sei, habe er entschieden, die geparkten Fahrzeuge im Bereich des Motorblocks im Sinne eines sicheren Kugelfangs zu beschiessen. Die Hoffnung sei dabei auch gewesen, dass diese Fahrzeuge später liegenbleiben würden und die Täter so gefasst werden könnten.
Der Staatsanwalt begann seine Ausführungen mit der Bekundung, dass der Beschuldigte in erster Linie Opfer sei; trotzdem seien seine Handlungen nun gerichtlich zu beurteilen. Die Staatsanwaltschaft stellte sich im Wesentlichen auf den Standpunkt, dass der Beschuldigte mehrere Personen mindestens eventualvorsätzlich töten wollte, indem ihm doch bewusst gewesen sei, dass bei seiner Schussabgabe – unabhängig der Trefferzone – mit einem tödlichen Treffer zu rechnen war. Während die Staatsanwaltschaft den objektiven Tatbestand zwar als gegeben erachtete, setzte sie selber Fragezeichen hinter eine mögliche rechtfertigende (Art. 15 StGB) bzw. entschuldbare Notwehr (Art. 16 StGB). Hätte der Beschuldigte weiter die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung überschritten, hätte er nicht schuldhaft gehandelt (Art. 16 Abs. 2 StGB) und wäre freizusprechen. Diese Fragen überliess die Staatsanwaltschaft sodann der gerichtlichen Beurteilung – m. E. ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Der Verteidiger des Beschuldigten plädierte auf Freispruch. Die Herleitung fusst im Wesentlichen auf zwei Säulen: Einerseits habe der Beschuldigte nicht eventualvorsätzlich – schon gar nicht vorsätzlich – gehandelt, andererseits liege ohnehin ein Fall rechtfertigender Notwehr (bzw. Notwehrhilfe) vor. Ferner führte die Verteidigung ins Feld, dass gar nicht mit Sicherheit erstellt sei, dass die Verletzung des Angreifers dem Tun des Beschuldigten entsprang: Der Angreifer hätte auch durch ein anderes Projektil verletzt worden sein können. Der Beschuldigte habe – unterstützt durch seine beachtlichen Schiessfertigkeiten sowie sein mit Rotpunktvisier (Reflexvisier) ausgestattetes SG 553 – kontrolliert nach unten links in seine Hauswand geschossen. Gefährliche Treffer habe er damit ausgeschlossen und ausschliessen können. Nie habe der Beschuldigte direkt auf die Angreifer geschossen oder schiessen wollen, obwohl er die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Eine Notwehrlage habe bestanden, ein milderes Abwehrmittel hingegen nicht. Weiter gab die Verteidigung zu bedenken, dass man zwar normalerweise Eigentum nicht mit einem Gegenangriff auf Leib oder Leben verteidigen dürfe, vorliegend mit Waffen jedoch potenziell gefährliches und daher spezielles Eigentum verteidigt worden sei. Die von der Staatsanwaltschaft gebaute Brücke der entschuldbaren Notwehr hat der Verteidiger konsequenterweise nicht überquert, sieht er doch keine überschrittenen Notwehrgrenzen.
Urteilsverkündung
Das Bezirksgericht Rheinfelden sprach den Beschuldigten vollumfänglich von Schuld und Strafe frei. Meinem Empfinden nach hat dieser Freispruch niemanden im Saal überrascht. Das Bezirksgerichts hat das gefällte Urteil kurz mündlich begründet:
Betreffend den mutmasslich angeschossenen Angreifer auf Schlafzimmerhöhe stellt das Bezirksgericht darauf ab, dass der Beschuldigte einzig einen Warnschuss abgeben wollte. Dabei habe er nicht davon ausgehen müssen, dass sich hinter dem avisierten Fassadenbereich eine Person befand, vielmehr habe er diese weiter rechts vermuten dürfen. Insofern habe sich der Beschuldigte über den Sachverhalt geirrt (Sachverhaltsirrtum, Art. 13 StGB). Dies führe zum Ausschluss des (Eventual)Vorsatzes. Weiter stellte das Gericht klar, dass es den Warnschuss durch die Fassade auch bei Vorliegen eines Eventualvorsatzes unter dem Titel der Putativnotwehr als gerechtfertigt ansehen würde. Der Einsatz der Schusswaffe sei in diesem konkreten Fall das richtige Mittel gewesen. Ähnlich begründet das Bezirksgericht den Freispruch betreffend die Schüsse auf die parkierten Autos: Die Aussage, wonach man bei Schüssen auf einen Motorblock gefährliche Querschläger ausschliesse und diesen als sicheren Kugelfang erachte, sei glaubhaft. Dadurch entfalle auch hier der nötige Vorsatz betreffend eine Verletzung oder Tötung von Menschen. Dass die Verletzung des hochgekletterten Angreifers nicht mit Sicherheit den Schüssen des Beschuldigten zugeordnet werden kann, sei ein „Blinder Fleck“, aber vor diesem Hintergrund nicht mehr entscheidend. Die urteilsverkündende Gerichtspräsidentin betonte, dass sie diesen Freispruch nicht als „Freibrief“ für Waffenhändler, Schützen oder Waffenbesitzer verstanden sehen will, schiessen zu dürfen. Hier seien die Umstände sehr speziell gewesen. Gleichzeitig äusserte sie aber auch ein gewisses Verständnis für das Verteidigen von Waffen durch Schusswaffeneinsatz; schliesslich handle es sich hier um Gegenstände, die in falschen Händen hohes Gefährdungspotenzial haben.
Würdigung
Durch Annahme eines Sachverhaltsirrtums kam das Bezirksgericht zu einer Beurteilung, die zwar in der Einschätzung des Verteidigers veranlagt war, so letztlich aber von keiner Partei konkret vorgebracht wurde.
Mit dem Ausschluss des Eventualvorsatzes bei diesem konkreten Warnschuss sowie den Schüssen auf die Motorblöcke musste das Gericht mindestens die notwendige Willens- oder Wissenskomponente verneinen: Der Beschuldigte hat eine Verletzung nicht in Kauf genommen oder eine solche nicht als möglich vorausgesehen. Ersteres würde eine Strafbarkeit nicht generell ausschliessen, da auch bei Vertrauen auf den Nichteintritt noch die Türe zur bewussten Fahrlässigkeit offenbliebe. Eine fahrlässige Körperverletzung war indes nicht angeklagt.
Mit Blick auf die bekannten Umstände halte ich den Freispruch für korrekt. Alle im Rahmen der Hauptverhandlung vorgebrachten Begründungen bzw. Begründungsversuche scheinen vertretbar, sei es nun der Sachverhaltsirrtum mit Verneinen des Vorsatzes, die rechtfertigende Notwehr, die Putativnotwehr oder die entschuldbare Notwehr.
Für redundant halte ich den expliziten Hinweis, dass dieses Urteil nicht als „Freibrief“ zu verstehen sei. Kein Urteil vermag als „Freibrief“ die Regeln des Strafgesetzbuches auszuhebeln. Interessanter und im Ergebnis überzeugend finde ich hingegen das geäusserte Verständnis für das feuerwaffengestützte Verteidigen potenziell gefährlichen Eigentums, auch wenn dieser Aspekt vorliegend nicht entscheidend war. Diese einzelfallgerechte Offenheit des Strafgerichts ist zu begrüssen.
Dieses erstinstanzliche Urteil aus Rheinfelden ist noch nicht rechtskräftig, wobei ich einen Weiterzug an dieser Stelle auszuschliessen wage.