Abgefangene Fehlbestellung ist kein Erwerb


Das Aargauer Obergericht verneint den vollendeten Waffenerwerb, nachdem online bestellte Klappmesser von der Zollverwaltung zurückbehalten wurden. Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Einfuhr ohne Bewilligung wird indes bestätigt.

Tatvorwürfe

Einem Beschuldigten aus dem Kanton Aargau wurde, ursprünglich per Strafbefehl, die mehrfache fahrlässige Widerhandlung gegen das Waffengesetz (Art. 33 Abs. 1 lit. a i. V. m. Abs. 2 WG) vorgeworfen: Ohne Berechtigung habe er fahrlässig zwei Waffen (Klappmesser) erworben und in das schweizerische Staatsgebiet eingeführt. Der angeklagte Sachverhalt lautet wie folgt:

Der Beschuldigte bestellte am 29.09.2020 an seinem Wohnort in Q. über die ausländische Shopping-App „Wish“ zwei Klappmesser. Die Klappmesser wurde[n] in der Folge auf dem Postweg aus dem Ausland in die Schweiz versandt, wo sie am 05.11. und 19.11.2020 bei der Zollstelle Zürich-Flughafen, 8010 Zürich-Mülligen eintrafen und von der Eidgenössischen Zollverwaltung zurückbehalten wurden.

Die Klappmesser, die der Beschuldigte bestellte, waren einhändig bedienbar und verfügten über einen federunterstützten Auslösemechanismus. Die Klappmesser stellen damit eine Waffe im Sinne des Waffengesetzes dar. Der Erwerb solcher Waffe bedarf einer kantonalen Ausnahmebewilligung. Überdies ist eine Einfuhrbewilligung einzuholen. Der Beschuldigte verfügte weder über eine kantonale Ausnahmebewilligung noch über eine Einfuhrbewilligung.

Der Beschuldigte erwarb nicht absichtlich verbotene Waffen im Ausland und versuchte diese in die Schweiz einzuführen. Es war jedoch vorhersehbar, dass der Beschuldigte beim Kauf und der Einfuhr der Klappmesser im Ausland gegen das Waffengesetz verstossen könnte, da er sich nicht um die Beschaffenheit der Klappmesser kümmerte. Der Erwerb und die Einfuhr von verbotenen Waffen hätte vermieden werden können, wenn der Beschuldigte sich vorgängig über Funktionen der Klappmesser und die geltenden Bestimmungen informiert hätte.

Urteil des Obergerichts AG SST.2022.98 vom 10.01.2023 Anklagesachverhalt

Im Unterschied zu den verbreiteten Fällen, in denen Personen richtig erkannte Gegenstände in Onlineshops bestellen, jedoch nicht wissen, dass es sich bei der korrekt gelieferten Ware um eine bewilligungspflichtige Waffe handelt (Irrtum über die Rechtswidrigkeit, Art. 21 StGB), scheint der Beschuldigte hier ungewollt eine verbotene Waffe zugeschickt bekommen zu haben.

Verwunderlich ist ferner, dass die Staatsanwaltschaft im Anklagesachverhalt trotz Fahrlässigkeitsvorwurf von versuchter Einfuhr spricht. Auf die Unmöglichkeit dieser Konstellation weist das Obergericht in E. 4.4.1 hin.

Urteilsbegründung

In seinem Urteil SST.2022.98 vom 10. Januar 2023 beurteilt das Obergericht des Kantons Aargau die beiden Vorwürfe – sinnigerweise – getrennt.

Kein vollendeter Erwerb

Erst legt das Obergericht den waffenrechtlichen Erwerbsbegriff aus:

Der Begriff des „Erwerbs“ im Sinne des Waffengesetzes umfasst alle Formen der Eigentums- bzw. Besitzesübertragung wie z. B. Kauf, Tausch, Schenkung, Erbschaft, Miete und Gebrauchsleihe. Ein Waffenerwerb im Sinne des Waffengesetzes liegt vor, wenn der Erwerber die tatsächliche Herrschaftsgewalt über die Waffe erhält, ohne dass ein Dritter diese Herrschaftsgewalt ausübt (BGE 143 IV 347 E. 3.4; vgl. auch BOPP/JENDIS, in: FACINCANI/SUTTER [Hrsg.], Waffengesetz [WG], Bern 2017, N. 12 zu Art. 5 WG). Beim Kauf einer Waffe ist deren Erwerb somit erst dann i. S. v. Art. 33 Abs. 1 lit. a WG vollendet, wenn mit der Entgegennahme die tatsächliche Herrschaft über die Waffe erlangt wird, so dass die erwerbende Person über sie verfügen kann (vgl. BGE 143 IV 347 E. 3.4). Der Abschluss eines Vertrags allein genügt für die Vollendung eines Erwerbs einer Waffe im Sinne des Waffengesetzes demnach nicht.

Urteil des Obergerichts AG SST.2022.98 vom 10.01.2023 E. 4.4.2.1

Sodann begründet das Gericht seinen diesbezüglichen Freispruch:

Nach erfolgter Bestellung der beiden Klappmesser durch den Beschuldigten gelangten diese aus dem Ausland auf dem Postweg zur Zollstelle Zürich-Flughafen, wo sie von der Eidgenössischen Zollverwaltung vorerst zurückbehalten und später direkt den Strafuntersuchungsbehörden übergeben wurden (vgl. E. 4.1 und 4.3 hiervor). Demzufolge hatte der Beschuldigte nie die tatsächliche Herrschaftsgewalt über die beiden Messer inne. Zwar bestellte er diese im Internet, indessen konnte er zu keinem Zeitpunkt über sie verfügen, ohne dass ein Dritter die Herrschaftsgewalt darüber ausübte. Vielmehr waren die beiden Messer stets unter der Herrschaftsmacht der Verkäuferin, der Transportunternehmen, der Zollverwaltung oder der Strafuntersuchungsbehörden. Mangels tatsächlicher Herrschaftsgewalt über die Messer hat der Beschuldigte somit den Tatbestand des Erwerbs einer Waffe i. S. v. Art. 33 Abs. 1 lit. a WG nicht vollendet. Allenfalls wäre eine vorsätzliche versuchte Tatbegehung sowie ein Sachverhaltsirrtum gemäss Art. 13 StGB zu prüfen gewesen. Nachdem hier aber lediglich fahrlässiges Handeln angeklagt wurde und eine fahrlässig versuchte Begehung eines Übertretungstatbestands strafrechtlich gerade nicht relevant ist (vgl. E. 4.4.2.1 hiervor), ist der Beschuldigte vom angeklagten mehrfachen fahrlässigen Erwerb von verbotenen Waffen nach Art. 33 Abs. 1 lit. a WG i. V. m. Art. 33 Abs. 2 WG freizusprechen.

Urteil des Obergerichts AG SST.2022.98 vom 10.01.2023 E. 4.4.2.2

Fahrlässige Einfuhr bestätigt

Im Gegensatz zum obgenannten Tatvorwurf bestätigt das Obergericht den erstinstanzlichen Schuldspruch betreffend fahrlässige Einfuhr von Waffen. Nachstehend will ich die wichtigsten Erwägungen (auszugsweise) hervorheben.

Bei den vom Beschuldigten bestellten zwei Messer handelt es sich um einhändig bedienbare Klappmesser mit federunterstützenden Auslösemechanismen sowie jeweiligen Klingenlängen von ca. 10 cm und einer Gesamtlänge im geöffneten Zustand von etwa 22 cm, welche folglich unter das Waffengesetz gemäss Art. 4 Abs. 1 lit. c WG i. V. m. Art. 7 Abs. 1 WV fallen (vgl. vorinstanzliches Urteil E. 3.2.2; act. 15 ff.). Diese zwei vom Beschuldigten bestellten Klappmesser gelangten vom Ausland zur Zollstelle Zürich Flughafen und somit in schweizerisches Staatsgebiet. Der Beschuldigte hat die Messer folglich in die Schweiz verbringen lassen. Nachdem er dazu über keine Berechtigung verfügte, hat er den objektiven Tatbestand des Verbringens von Waffen in das schweizerische Staatsgebiet i. S. v. Art. 33 Abs. 1 lit. a WG erfüllt.

Urteil des Obergerichts AG SST.2022.98 vom 10.01.2023 E. 4.4.3.2

Entgegen den vorinstanzlichen Feststellungen handelt es sich beim fahrlässigen Verbringen von Waffen in das schweizerische Staatsgebiet um ein Tätigkeitsdelikt und nicht um ein Erfolgsdelikt. Da bei Tätigkeitsdelikten nicht das Herbeiführen eines verpönten Erfolgs, sondern schon eine bestimmte Handlung als solche mit Strafe bedroht ist, geht es beim fahrlässigen Tätigkeitsdelikt nicht darum, die Folgen eines pflichtwidrigen Verhaltens zu erkennen und zu vermeiden. Die Definition der Fahrlässigkeit muss vielmehr gegenüber dem allgemeinen Fahrlässigkeitsbegriff i. S. v. Art. 12 Abs. 3 StGB in der Weise abgewandelt werden, dass sich hier die Unvorsichtigkeit auf das tatsächliche Merkmal bezieht, welches das Unrecht der Handlung begründet (DONATSCH/GODENZI/TAG, Strafrecht I, Verbrechenslehre, 10. Aufl., Zürich/Genf, § 34 S. 390 f.).

Urteil des Obergerichts AG SST.2022.98 vom 10.01.2023 E. 4.5.2

Der im Zeitpunkt der Bestellung der beiden Klappmesser 44-jährige Beschuldigte ist Schweizer Bürger und somit mit der Rechts- und Werteordnung der Schweiz vertraut. Nachdem er sich zudem selber als Sammler von Messern (insbesondere von Schweizer Sackmessern) bezeichnet (act. 9), musste sich die Vermutung aufdrängen, dass es sich bei den von ihm bestellten Messer entgegen seinem Vorbringen (act. 42) eben gerade nicht um Schweizer Offiziermesser bzw. Schweizer Armeetaschenmesser handelte. Mit der Vorinstanz ist nämlich festzuhalten, dass der Beschuldigte bereits aufgrund der inserierten Bilder der Messer, welche mit den Bildern auf den von ihm eingereichten Bestellbestätigungen übereinstimmen sollen (act. 12 f.), insbesondere dem gerade für ein Schweizer Armeetaschenmesser mitnichten typischen Designs sowie des fehlenden Schweizerkreuzes, davon hätte ausgehen müssen, dass es sich entgegen dem inserierten Beschrieb der Messer nicht um Schweizer Produkte handelte. Auch weil auf den Bildern gross der Schriftzug der Marke „Browning“ ersichtlich ist und aufgrund des sehr günstigen Preises von Fr. 8.00 pro Messer hätte der Beschuldigte – gerade als Sammler von Messern – nähere Abklärungen über die Echtheit bzw. die Beschaffenheit der Messer treffen müssen. Bereits der Umstand aber, dass er die Messer aus dem Ausland bestellte, hätte ihn zu mehr Gedanken um deren Zulässigkeit veranlassen sollen. Entgegen des Vorbringens des Beschuldigten bestanden daher etliche Anhaltspunkte, wonach es sich bei den Messern gerade nicht um die Art von Produkten (Schweizer Offiziermesser) handelte, welche gemäss seinen Ausführungen angepriesen worden seien und von deren Echtheit er ausgegangen sein will (vgl. act. 42). Dies umso mehr, als bei der Bestellung von Messern, welche wie hier augenscheinlich nicht für den Alltagsgebrauch vorgesehen sind, wegen deren Gefährlichkeit ein weit höherer Massstab an die Sorgfaltspflicht gestellt wird als bei der Bestellung von Alltagsgegenständen wie beispielsweise Küchenmesser. Darüber hinaus ist mit der Vorinstanz festzuhalten, dass aufgrund all dieser Umstände selbst für eine Person, welche über keinerlei vertieftes Wissen über Messer verfügt, offensichtlich gewesen wäre, dass entgegen des inserierten Beschriebs tatsächlich kein Schweizer Offiziermesser angeboten wurde. Der Beschuldigte war daher auf jeden Fall angehalten, nähere Abklärungen zu treffen.

Das Treffen von vorgängigen Abklärungen wäre dem Beschuldigten nach den Umständen und seinen persönlichen Verhältnissen auch ohne weiteres zumutbar gewesen. So hätte ihm bereits eine kurze Recherche im Internet (beispielsweise mittels den bekannten Suchmaschinen oder in anderweitigen Internetshops) Aufschluss über die konkrete Beschaffenheit der Messer geben können. Auch ist entgegen den Behauptungen des Beschuldigten davon auszugehen, dass für ihn bereits beim Bestellvorgang auf der Wish-App eine nähere Umschreibung der Messer ersichtlich oder zumindest zugänglich war. […] So ist die Umschreibung der Messer auf diesen Auszügen jeweils nicht vollständig wiedergegeben, sondern mit dem nicht vollständig wiedergegebenen Begriff „Multif…“ umschrieben (vgl. die unvollständige Beschriftung in act. 12 f.). Die auf den Bestellbestätigungen unvollständige Beschreibung der Messer ist der Formatierung auf den Ausdrucken geschuldet und wäre auf der App selber vollständig einsehbar gewesen. Dazu kommt, dass der Beschuldigte auch bei der Verkäuferin ohnehin Nachfragen zum offensichtlich falsch angepriesenen Produkt hätte stellen können.

Und wenn der Beschuldigte nach erfolgten näheren Abklärungen keine weiteren Informationen über die Beschaffenheit der Messer hätte erhältlich machen können, wäre es ihm im Übrigen auch offen gestanden und hätte sich auch aufgedrängt, auf das Bestellen der Messer zu verzichten. Entgegen der Ansicht des Beschuldigten ist es im Bereich von Gegenständen, welche als Waffen eingesetzt werden können, gerade nicht so, dass unbesehen auf – wie hier – das Anpreisen von offensichtlich falschen Tatsachen abgestellt werden darf. Dies umso mehr, als für den Beschuldigten weder eine Dringlichkeit noch Notwendigkeit des Erlangens der von ihm bestellten Messer ersichtlich ist und von ihm auch nicht geltend gemacht wird.

Der Beschuldigte hätte somit nach den Umständen und seinen persönlichen Verhältnissen die geforderte Vorsicht aufbringen und somit noch vor der von ihm getätigten Bestellung nähere Abklärungen über die Beschaffenheit der Messer tätigen können. Er verzichtete aber darauf. Damit hat er aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit gehandelt und mehrfach fahrlässig gegen das Waffengesetz i. S. v. Art. 33 Abs. 1 lit. a WG i. V. m. Art. 33 Abs. 2 WG zufolge des Verbringens von Waffen in das schweizerische Staatsgebiet verstossen.

Urteil des Obergerichts AG SST.2022.98 vom 10.01.2023 E. 4.5.3

Würdigung

Bezüglich des Vorwurfs des fahrlässigen Waffenerwerbs ohne Berechtigung folgt das Obergericht dem Erwerbsbegriff, den ich bereits in einem früheren Beitrag beliebt machen wollte. Dass ich diese Haltung des Aargauer Obergerichts begrüsse, überrascht daher nicht. Weil die Logik keine versuchte Fahrlässigkeit zulässt und versuchte Übertretungen üblicherweise straflos sind, ist dieser Freispruch m. E. korrekt.

Was die unerlaubte Einfuhr der Messer betrifft, stellt das Obergericht einerseits hohe Anforderungen an den Besteller und scheint andererseits viel Vertrauen in die Qualität sowie den Kundendienst (de facto) chinesischer Onlineshops zu haben. Da ich das Produktinserat nicht kenne, will ich mir kein abschliessendes Urteil anmassen. Gemäss gerichtlicher Feststellung in E. 4.5.3 war das Produkt immerhin «offensichtlich falsch angepriesen». Nach meinem Dafürhalten dürfte ein Besteller jedenfalls nicht für eine Falschlieferung bestraft werden, würde er damit doch für die Fehler des Verkäufers büssen.

Nicht einverstanden bin ich mit der scheinbaren Versteifung des Obergerichts auf die «Echtheit» (E. 4.5.3) eines Offizierstaschenmessers. Art. 4 Abs. 6 WG und Art. 9 WV bezwecken keine Wettbewerbsvorteile für Victorinox (und früher Wenger). Diese Artikel umschreiben schlicht eine Art eines Klappmessers. So spricht Art. 4 Abs. 6 WG grundsätzlich von «Taschenmesser» und «vergleichbare Produkte». Entscheidend sind die Beschaffenheit und Funktionalität. Der Hersteller und der Verkaufspreis sind hingegen irrelevant. Die Urteilsbegründung hätte sich deshalb nicht auf die «Echtheit» des Messers, sondern auf die vorgängige Erkennbarkeit der Waffenqualität konzentrieren sollen. Bei einer «offensichtlich falschen» (E. 4.5.3) Produktbeschreibung dürfte die Erkennbarkeit eines (inneren) automatischen Auslösemechanismus‘ zumindest fraglich erscheinen.