Mittäterschaftlicher Tankstellenraub zum Zweiten


Das Bundesgericht durfte sich erneut mit einem möglichen bewaffneten Raub in Mittäterschaft befassen. Diesmal stand die Funktionstauglichkeit einer Pistole im Zentrum.

Wie anlässlich der Urteilsbesprechung dieses Aargauer Obergerichtsurteils vorhergesagt, durfte sich das Bundesgericht nun im Urteil 6B_649/2022 vom 24. Oktober 2022 erneut mit der Frage befassen, inwiefern der Beschwerdeführer anlässlich eines Tankstellenüberfalls einen mittäterschaftlichen qualifizierten Raub – neu nach Art. 140 Ziff. 2 StGB – begangen haben könnte.

Im Gegensatz zum letzten Weiterzug nach Lausanne wurde die Beschwerde des Beschuldigten diesmal abgewiesen, soweit darauf eingetreten wurde. Ferner blieb auch die Beschwerde des Komplizen erfolglos.

Waffentechnische Erwägungen

Im Rahmen des neuerlichen Strafurteils äussert das Bundesgericht waffentechnische Spezifika, auf die nachfolgend eingegangen wird. Einleiten will ich mit dem zentralen Streitpunkt:

Das Bundesgericht kassierte den Schuldspruch wegen qualifizierten Raubs im Sinne von Art. 140 Ziff. 4 StGB. Gemäss den Erwägungen im bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid stand für das vorinstanzliche Rückweisungsverfahren verbindlich fest, dass dem Beschwerdeführer nicht bekannt war, dass die von C. mitgeführte Schusswaffe geladen war. In Beachtung der Bindungswirkung des bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheids darf dem Beschwerdeführer der Einsatz der geladenen Schusswaffe (und insbesondere die Schussabgabe) durch den Mittäter nicht angerechnet werden.

Urteil des Bundesgerichts 6B_649/2022 vom 24.10.2022 E. 2.4

Funktionsfähigkeit vs. Ladezustand

Sodann differenziert das Bundesgericht definitionslos zwischen einer funktionsfähigen und einer geladenen Schusswaffe:

Mit seinen Feststellungen und Erwägungen hat das Bundesgericht aber weder zum Ausdruck gebracht, der Beschwerdeführer habe insofern auch nicht gewusst, dass die von C. mitgeführte Schusswaffe funktionsfähig war (Beschwerde S. 9 Ziff. 16 und S. 11 Ziff. 23), noch hat es sich damit bereits ausdrücklich zum Thema Mitführen einer funktionsfähigen Waffe geäussert. Indem die Vorinstanz im Rückweisungsverfahren nun neu der Frage nachgeht, ob der Beschwerdeführer davon Kenntnis hatte, oder ob er hätte annehmen müssen, dass die Schusswaffe von C. – unabhängig von dessen Ladezustand – funktionsfähig war und Munition enthielt, kommt sie entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht auf die Frage zurück, ob er tatsächlich wusste, dass die Waffe geladen war.

Urteil des Bundesgerichts 6B_649/2022 vom 24.10.2022 E. 2.4

Dem Bundesgericht ist zuzustimmen, dass die Begriffe der funktionsfähigen Feuerwaffe und der geladenen Feuerwaffe nicht identisch sind. Die Funktionsfähigkeit bezieht sich auf die Tauglichkeit eines Geräts, seine inneren mechanischen Abläufe plangemäss umsetzen zu können. Demgegenüber beschränkt sich der Ladezustand einer Feuerwaffe auf die Frage, ob sich eine Patrone im Patronenlager befindet. Alle Kombinationen sind möglich: Eine ungeladene Schusswaffe kann funktionsfähig sein. Eine geladene Schusswaffe kann funktionsunfähig sein (z. B. bei gebrochenem Zündstift). Funktionsstörungen können auch – m. E. in der Praxis gar am häufigsten der Fall – auf die verwendete Munition oder das verwendete Magazin (Ladevorrichtung) zurückzuführen sein.

Munition enthalten ≠ geladen

Wer mit der Handhabung von Feuerwaffen nicht vertraut ist, mag sich fragen, wie eine Pistole «Munition enthielt» und dennoch nicht «geladen war» (E. 2.4). Denkbar ist ein unterladener Schusswaffenzustand. Hierbei ist ein mit Munition bestücktes Magazin in die Waffe eingesetzt, die Waffe selber jedoch nicht geladen (keine Patrone im Patronenlager). Der vorinstanzliche Entscheid deutet diesen Umstand in seiner E. 2.3 an. Diese Erwägung des Obergerichts legt das Bundesgericht sodann auf die Waage:

Die vorinstanzliche Erwägung, wonach der Beschwerdeführer hätte davon ausgehen können und müssen, dass in der echten Waffe von C. Patronen waren (Urteil S. 5 E. 2.3), ist sodann nicht dahingehend zu verstehen, dass der Beschwerdeführer doch wusste, dass die fragliche Waffe geladen war (Beschwerde S. 10 Ziff. 20).

Urteil des Bundesgerichts 6B_649/2022 vom 24.10.2022 E. 2.4

Mit anderen Worten soll der Beschwerdeführer nicht gewusst haben, dass sich im Patronenlager der Pistole seines Komplizen eine Patrone befand; dass sich in dessen Magazin Patronen befanden, soll ihm hingegen genügend klar gewesen sein.

Die herangezogene Erwägung des Obergerichts betrachtend, darf man sich fragen, ob es stellenweise selber befüllte Magazine mit geladenen Waffen vermischt hat:

Dass er davon ausgegangen sei, dass die Waffe keine Patronen im Magazin gehabt habe, wird selbst von ihm selber nicht vorgebracht. Unter den gegebenen Umständen konnte er denn auch gar nicht darauf vertrauen, dass sich keine Patronen im Magazin befinden würden. Der Beschuldigte gab sich als geübt im Umgang mit Waffen zu erkennen, wobei ihm daher auch die Regel bekannt sein dürfte, dass Waffen in erster Linie immer als geladen zu betrachten sind, solange man sich nicht vom Gegenteil überzeugt hat (vgl. z.B. Sicherheitstipps bei Umgang mit Waffen des Kantons Zürich: www.zh.ch/de/sicherheit-justiz/delikte-praevention/waffen.html). Entsprechend lässt dies nur den Schluss zu, dass der Beschuldigte zumindest in Kauf nahm, dass B., als er mit ihm zusammen den Raubüberfall auf die Tankstelle in L. verübte, eine funktionstüchtige und zur Schussabgabe taugliche Waffe mit sich führte.

Urteil des Obergerichts AG SST.2022.31 vom 04.04.2022 E. 2.3

Ergebnis

Die obergerichtliche Vermutung, wonach der Beschwerdeführer alle Waffen als geladen zu betrachten hatte – gemäss Bundesgericht jedoch nicht wusste, dass die Waffe des Komplizen geladen war –, begründet ausreichende Kenntnis der mechanischen Tauglichkeit der Pistole des Komplizen und des Füllzustands dessen Magazins (nicht aber des Patronenlagers). Dieser Gedankengang scheint vor Bundesgericht standzuhalten.

Ob es richtig ist, dem Beschwerdeführer in seiner damaligen Situation derart umfassendes und spezifisches Wissen – notabene nicht über eine eigene, sondern die Waffe des Komplizen – zuzurechnen, will ich mangels Aktenkenntnis offenlassen. Bejaht man diese Zurechenbarkeit, öffnet sich das Tor zur Verurteilung wegen qualifizierten (bewaffneten) Raubes nach Art. 140 Ziff. 2 StGB in Mittäterschaft; denn das Mitführen einer ungeladenen, funktionsfähigen Waffe genügt, wenn passende Munition zur Hand ist. Insofern ist dieses Bundesgerichtsurteil korrekt.